Die Erinnerung an legendäre Radrennen in Erding
Freitag Abend, herrlichstes Juni-Wetter. Dicht an dicht warten die Erdinger Radsport-Fans hinter den Absperrgittern. Plötzlich werden die Gespräche leiser, schnell nähert sich eine zunächst undefinierbare, dann als Jubel und Anfeuerung erkennbare Welle. Mit hohem Tempo rast das Peloton mit gut 100 Rennfahrern heran. Vorderrad an Hinterrad, kurz hört man nur das Keuchen, riecht den Schweiß der hart arbeitenden Männer, dazu ein lautes Sirren der gut geölten Ketten auf den Zahnrädern. Unglaublich schnell schießen die Athleten über das Kopfsteinpflaster durch den Schönen Turm in Richtung berüchtigter „Krönauer-Kurve“ und ziehen einen kurzen Sog hinter sich her. Auf zur nächsten von insgesamt 60 Runden. Wir stehen in der Lange Zeile, 2015, dem Nachtkriterium. Früher die Eröffnung und sportlicher Höhepunkt des Altstadtfestes, heuer zwei Wochen vorverlegt – weil sich immer wieder Wirte beschwert hatten. Manche Jahre säumten Tausende die Straßen, jetzt sind es deutlich weniger. Keiner wusste, dass es das letzte Radrennen in Erding ist. Kaum zu glauben, in einer Stadt mit so viel Radrenn-Tradition.
Der Veloziped-Club
29 Mal hat sich das so zugetragen, veranstaltet von der Radsportabteilung des TSV Erding. Doch dann gab es kein nächstes Mal. Die Zuschauer blieben aus, der Hauptsponsor Sparkasse stieg aus. Der Aufwand blieb aber immer gleich immens mit dem Auf- und Abbau der Gitter, Kissen und Strohballen, Absperrungen. Vor allem beim Abbau kamen die vielen Freiwilligen kaum noch durch den Pulk der Altstadt-Feierwütigen. Also gaben sie es auf.
„Radsport gibt es in Erding schon seit den 1880ern“, weiß Stadtarchivar Markus Hiermer. Im Erdinger Museum hängt sogar ein Bild samt Plakette des „Erdinger Veloziped“-Clubs, als der sich stolz im Gasthaus Lex 1904 präsentierte. Zwei Vereine, die bürgerliche „Concordia“ und der Arbeitersportverein „Solidarität“ Erding, agierten später nebeneinander. „Die Erdinger Chronik gibt leider nicht viel her“, bedauert Hiermer, aber irgendwann haben sich beide Vereine vereinigt. Ihnen war in den Weltkriegen das Radfahren für Vergnügungs- und Sportzwecke verboten, Grund war der Kautschuk, der als Grundstoff zur Gummiherstellung aufgrund kriegsbedingter Einfuhrschwierigkeiten zur Mangelware wurde.
Eines der ersten „Lebenszeichen“ des nach dem Weltkrieg wiederaufkeimenden Radsports bezeugt das Plakat der Radsportabteilung des S.V. Erding, das am 12. August 1951 zur Jagd „77 Runden um den Ebner-Bräu einlädt“, im Dreieck zwischen Bachingerstraße – Haager Straße – Am Bahnhof elf Wertungen für Amateure der Spitzenklasse. „Wie oft es das gab, das weiß ich auch nicht, irgendwann war’s wieder vorbei“, sagt Josef Biller. Er war 27 Jahre lang Vorstand des TSV Radsports und schreibt aktuell die Chronik der seit 41 Jahren bestehenden Radsport-Abteilung.
Volksfestkriterium
Am 9.9.1979 knüpften sie auf jeden Fall wieder an die Tradition des „Ebner-Rundkurs“ an. Immer zur Volkfestzeit drehten Amateurfahrer die 800 Meter langen Runde: das „Volksfestkriterium“ war geboren. Mit Armin Klier stand ein bekannter Name auf der Siegerliste des ersten Rennens, Klier ist der Vater des späteren Telekom-Profis Andreas Klier. 22 Jahre lang kamen Radsportler aus Erding und Umgebung, der große Parkplatz beim Ebner-Bräu diente als Fahrerlager, bot Platz für Kampfrichterwagen, Startnummernausgabe. Geduscht wurde in der Turnhalle der Grundschule am Grünen Markt. „Die Amateure mussten 60 Runden fahren, jeweils nach fünf Runden gab es eine Punktewertung“, berichtet sich Biller. „Das Rennen entwickelte sich zum Inbegriff im Rahmen des Erdinger Herbstfestprogramms. Am Ende zogen Fans und Fahrer gemeinsam zum Feiern auf den Festplatz. Alle Helfer wurden in der Box der Stiftungsbräu verköstigt, die den Event maßgeblich unterstützte“, erinnert sich Biller.
Ein Highlight des Rennens war im Jahr 1984, als der Silbermedaillengewinner von Los Angeles Uwe Messerschmitt, der deutsche Nationalfahrer Christian Goldschagg, in der Damenklasse das Mitglied der deutschen Olympiamannschaft Gabi Altweck sowie die österreichische Straßenmeisterin Else Dobiasch an den Start gingen. In dem erstklassigen, mit Elitefahrern besetzten Teilnehmerfeld des Hauptrennens konnte die Erdinger Radlegende Karl Pfeiffer den 2. Platz belegen, hinter dem Sieger Uwe Messerschmitt. Doch im September 2000 war damit Schluss, „die Zuschauer blieben weg“, so Biller. „Die Konkurrenz mit Schafkopf- und Pferderennen, die beide ebenfalls am Sonntag stattfanden, war einfach zu groß.“
Das Nachtkriterium
Somit blieb noch das Nachtkriterium zum Altstadtfest übrig, der gefährliche Pflastersteinritt die Lange Zeile hinauf. Der erste Startschuss fiel am 1. Juli 1983. „Immer Freitag abends ab 19 Uhr“, so Biller, „über den Schrannenplatz, durch den Schönen Turm mit der gefährlichen Krönauer Kurve vor dem Einbiegen in die Zielgerade.“ Insgesamt 29 Mal wurde „die Lange Zeile, die „Einkaufs-Meile“ der Stadt Erding, zur Rennstrecke, umsäumt von Getränkebuden, Schmankerlständen und Fahrgeschäften. „Da herrschte 6-Tage-Rennen Atmosphäre mit Riesenrad und natürlich dem Berliner Sportpalastwalzer“, gerät Biller heute noch ins Schwärmen. Auch wenn’s „ein Haufen Arbeit war.“ Die beidseitig der Zielgeraden aufgestellten Sperrgitter mit Bandenwerbung verwandelten die Lange Zeile zu einer professionellen Sprintmeile in der Altstadt. Das Hauptrennen erstreckte sich stets über 60 Runden. Unzählige Sprints zum Interesse vieler begeisterter Zuschauer wurden dabei ausgetragen. „Was war das für ein Gefühl, wenn nach dem scharfen Knall aus der Startpistole ein bis zu hundert Mann starkes Fahrerfeld die Lange Zeile entlangschoss und aufgrund des Luftsogs sich in den Nasen der Zuschauer der Duft von Massageöl, Kettenfett und Bratwurst breit machte“, schwärmt Biller
Über Jahre hinweg war das Erdinger Nachtkriterium eines der herausragenden Radsportevents in Bayern, auch internationale Fahrer waren am Start. Der Juli war auch der ideale Termin, die Altstadt war voll mit Zuschauern, die sich angezogen von der schön ausgestalteten und beleuchteten Innenstadt und den sommerlich warmen Temperaturen nach einem Einkaufbummel die packenden Rennen anschauten. „Man schlürfte ein Eis vom Krönauer oder gönnte sich ein Bier vom Erdinger Weißbräu – daneben rasten die Radfahrer vorbei“, sagt Biller. Da sei es schon vorgekommen, dass die Bedienungen der diversen Gaststätten mit einem randvollen Tablett Bier über die Rennstrecke gelockt wurden, um den Durst begeisterter Zuschauer zu löschen.
„Irgendwann haben wir dann nur noch gestört!“
Auch hier war das Jahr 1984 ein besonderes, die Topfahrer Michael Marx und Rolf Gölz machten in Erding Station für den letzten Testlauf vor der Olympiade in Los Angeles. „Das war schon was“, sagt Biller. Über 2000 Zuschauer in der Altstadt, in mehreren Reihen dicht gedrängt die Lange Zeile entlang, hinter Hunderten von Sperrgittern. „Tags darauf war dann das Lange Zeile Fest, da war zwei Tage Remmi Demmi in der Innenstadt – da steppte der Bär!“ Für die Helfer des Radsportvereins bedeutete das jedoch viele Stunden Arbeit, Rennorganisation, Sicherheit, Auf- und Abbau, Flyer und die gesamte Infrastruktur, „da waren wir echt an der Grenze“, erinnert sich Biller. Zudem gab es noch Showeinlagen im Kunstrad- oder Einradfahren, mit dem Rhönrad, Inline-Skates-, Prominenten- und Kinder-Laufraderennen.
Im Gegensatz zum Volksfestkriterium schaffte es das Nachtevent zumindest bis zur 29. Auflage, aber auch hier jagte am 19. Juni 2015 der letzte Sprint über die Ziellinie. Für Biller war das Vorziehen des Rennens in den Juni und die Entkoppelung vom Altstadtfest ein Grund des Scheiterns. Am Anfang war am Freitag Abend das Rennen und am Samstag Altstadtfest, dann hat man das Fest um einen Tag ausgedehnt, weil eh‘ schon so viele Leute in der Stadt waren. „Irgendwann haben wir dann nur noch gestört, letztlich wurde das Rennen terminlich vorgezogen. „Doch im Juni kam nur noch ein Bruchteil der Zuschauer, auch passte der Termin nicht mehr in den Rennkalender der Fahrer. Das Kriterium hatte damit an Attraktivität verloren.“
Die legendären Erdinger Radrennen gehören damit der Vergangenheit an.
Viele große Rennen
Die Mitgliederzahl der TSV-Radsportabteilung stieg ständig an, 1984 waren es bereits 130. Intern wurden 17 Vereinsrennen ausgetragen, überregional veranstaltete die Radsportabteilung mehrere große Rennen.
Das erste interne Straßenrennen am 3.9.1978 war ein Rundkurs im südlichen Landkreis mit 15,6 Kilometer Länge und zwei Berganstiegen, drei Runden waren zu absolvieren. Ausgehend vom Wirt in Hallnberg führte die Strecke über Walpertskirchen, den Anstieg über Neufahrn hoch, rechts ab über Kolbing nach Außer- und Innerbittlbach. Hinter Oberndorf war der zweite Anstieg nach Kaltenbach bis kurz vor Buch am Buchrain zu bewältigen, bevor die Strecke wieder zum Start- und Zielpunkt nach Hallnberg zurückführte.
Es folgten mehrere interne Rennen und dann, am 1. Mai 1983, das erste Amateurrennen um den „Erdinger Straßenpreis“. Eingebaut war jetzt der steile Anstieg den Kopfsburger Berg hinauf bis zum Holzwirt. Hier wurde um die Bergwertung gefightet. Die Runde wurde fünf Mal passiert, das waren 127 Kilometer und gewaltige 2000 Höhenmeter. Im Hauptfeld gingen 200 erstklassige Lizenzfahrer an den Start, Karl Pfeiffer konnte den sensationellen vierten Platz erreichen. In Fachkreisen wurde der Erdinger Straßenpreis als einer der schwersten Frühjahrsklassiker in Bayern bezeichnet.
Ab dem Jahr 1984 hieß das Rennen „Erdinger Weißbräupreis-Cup“, weckte ein Jahr später sogar das Interesse des Bayerischen Rundfunks – der Sieger hieß Karl Pfeiffer. Am 10. April 1988 fand das Rennen zum fünften Mal statt, nun aber auf einer anderen Strecke. Ein Jahr später durfte die Radsportabteilung die „Bayerische Straßenmeisterschaft“ austragen, 450 Rennfahrer aller Klassen gingen zeitversetzt an den Start. Am 22. Mai 1990 war das letzte große Straßenrennen, der Aufwand für Absperrungen und Sicherheitsvorkehrungen war einfach zu groß geworden.
Höhepunkt für den Verein war jedoch die „Deutsche Meisterschaft 1991 im 50 km Einzelzeitfahren“ für Amateure, Ehrengast war Radsportlegende Rudi Altig. Das Rennen wurde zum Teil auf dem noch nicht eröffneten neuen Erdinger Flughafen auf den Start- und Landebahnen von 179 Fahrern gefahren. Am Ende freuten sich Fahrer, Funktionäre und Besucher über ein einzigartiges und hochklassiges Rennen.